Am zehnten Tage sprach der Oberpriester also: »Das Bild vor dem Du heute stehst, heißt das Rad des Lebens. Es stellt den großen Umschwung aller Dinge dar. Wer heute lebt, ist morgen tot, wer heute stirbt, lebt morgen. Wer heute reich, ist morgen arm, wer heute arm, ist morgen reich. Alles lebt, rollt, hebt und senkt sich.

Siehst Du die flatternden Bänder am Rade? Sie weisen Dich auf die rasende Geschwindigkeit, mit der das Rad des Lebens durch Zeitalter und Ewigkeiten rollt. Tausend Jahre sind wie ein Tag.

Die Sphinx, die ruhig und rätselhaft über dem Rade des Lebens auf Wolken thront, sagt uns, daß in höheren Welten uns jetzt noch rätselhafte Wesen unsere Schicksale beobachten und leiten. Die geheimnisvollen Zeichen auf dem Rade selber deuten darauf hin, daß es in unserem Leben vieles gibt, was wir jetzt noch nicht verstehen können. Die Erklärung aber harrt unser, wenn wir Kraft und Reife erlangt haben.

Dann werden wir mit vollem Bewußtsein und völligem Erinnern jene Welten besuchen können, in denen wir jetzt während der Zeit von einem Tode bis zu einer neuen Geburt ruhend und wirkend, erntend und genießend oder trauernd und leidend weilen, – aber da wir jetzt noch in unserem unentwickelten Zustande sind, können wir uns des Erlebten und Erschauten nicht erinnern.

Sieh Dir die Sphinx an. Sie offenbart uns das Wesen derjenigen, die das Rad des Lebens leiten. Sie zeigt uns auch die Eigenschaften, die wir in uns zu pflegen haben. Sie besteht wie wir aus vier Teilen. Vier Teile, die uns Wissen, Wollen, Wagen, Schweigen zurufen. Wissen, Wollen und Können, Wagen und Schweigen ist Göttliches im Wesen des Menschen. Wissen und wollen, zugreifen und schweigend höher streben ist ein Zug, der auch den Göttern gemeinsam ist, der infolge von Übung ihnen Natur geworden ist.

Der menschliche Kopf der Sphinx sagt uns: Wissen. Die Leiter der Geschicke der Völker und Individuen wissen, was ihr Ziel ist. Auch wir wollen wissen. Aus zwei Quellen schöpfen wir Menschen unser Wissen. Erstens aus Büchern und aus dem mündlichen Unterricht derer, die weiter sind als wir, und zweitens gibt es Stimmen, die aus der anderen Welt zu uns tönen, entweder Gedanken, Einfälle, die uns beim Meditieren kommen oder direkte Mitteilungen unserer Führer.

Der Stierleib der Sphinx sagt uns: Arbeit, Schaffen, Können, Kraft. Kraft aber ist da, wo Wille ist. Unser Wille ist die Quelle unserer Kraft. Darum müssen wir nicht nur unsern Willen stärken, sondern auch uns hüten, unter den Willenseinfluß eines anderen Menschen zu geraten; wir würden ihm die Quelle unserer Kraft ausliefern, den stärksten Bestandteil unserer Persönlichkeit. Der Stierleib der Sphinx sagt uns also: Wille und Kraft. Die Führer der Menschheit haben nicht nur Einsicht und Weisheit, sondern auch Wille und Kraft, die Menschheit den höchsten Höhen zuzuführen. Sie vollenden, was sie wollen. Sie ruhen in ihrem Wirken nicht. Und auch wir sind von ihnen berufen, das Höchste, Schönste, Lieblichste in uns zu wollen und zu verwirklichen.

Die Tatzen des Löwen sagen: zugreifen, wagen, halten. Die Führer können eingreifen, wenn es nottut. Wir aber müssen, nachdem wir die Notwendigkeit eines Schrittes erkannt und ihn gewollt haben, wagen, ihn zu tun.

Die Adlerflügel sind ein Symbol für das Emporschweben der Geister. Götter und Menschen auf dem Wege zur Vergottung schweben in seligen Reigen zu immer reineren vergeistigteren Höhen empor, das Gute wollend und über gemachte Erfahrungen und geschaute Schönheit schweigend.

Dann siehst Du noch zwei Gestalten am Rade. Links der gute Gott, Hermanibus – der Hundekopf deutet auf Treue – und rechts Typhon, der böse Gott, die geflügelte Schlange. Hermanibus fährt am Rade hinauf und Typhon hinunter. In der Stellung dieser beiden Götter, die das Gute und das Böse bedeuten, liegt des Lebens höchste Weisheitsregel. Das Gute führt immer empor – zur Vollkommenheit; das Böse immer hinab zur inneren und auch äußeren Verkommenheit, zuletzt zur Vernichtung. Es ist nicht gleich sichtbar. Die Zeit, da alles sichtbar wird, tritt oft erst später, nach dem Ableben des Menschen ein.

Aber die Offenbarung dessen, was wir sind, ist unabwendbar. Darum, o Pilgrim, auf dem Wege zum herrlichen Lichte, liebe, suche und übe das Gute und hasse, meide und unterlasse das Böse. Du wirkst mit dem Guten goldene Fäden ins Gewand, das Du dereinst tragen wirst. Lass Dich nicht betrügen von der Befriedigung, die das Böse für den Augenblick gewährt. Schande und Ehre werden offenbar.

Und nun gehe hin und komme heute Abend nach Sonnenuntergang ins Heiligtum: Die Stunde Deiner Einweihung naht.«

* * *

Der junge Priester verbrachte den Tag betend und fastend. Er bat um Weisheit, immer das Richtige zu wählen, um Kraft, stets das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Er lag lange anbetend auf seinen Knien vor dem höchsten Gotte, von dessen Dasein und Wesen er einiges wusste und anderes ehrfurchtsvoll ahnte. Er saß in Meditation versunken in der heiligen Stellung, aufrecht, die Hände auf den Knien. Dann senkte sich die Sonne und färbte eine Zeit lang den Sand der Wüste mit Purpur und Gold. Als es Abend geworden war, verließ der junge Priester den Garten. Die Palmen ragten ins unendliche Dunkel. Das Wasser der Teiche glänzte kaum. Überall Schatten und Geheimnisse.

Im Heiligtum empfing ihn der Oberpriester. Dem Jüngling schien, als stünde neben ihm eine lichte Wolkensäule. Könnte es eine Täuschung sein?

Schweigend geleitete der Oberpriester den Jüngling durch hohe Hallen. Riesige Säulen, deren Kapitole das heilige Symbol der Lotosblume darstellten, trugen Gebälk, das in der Höhe, im Dunkeln verschwand. In einem kleinen gewölbten Heiligtum hinter einem Altar stand ein Ruhebett. »Leg’ Dich hin.« Schweigend streckte sich der junge Priester aufs Lager. Der Oberpriester hob die Rechte: »Schlaf!« Dem Jüngling schwanden die Sinne. Er verlor nicht ganz das Bewußtsein, aber ihm schwindelte. Es war ein neuer Zustand, er wachte nicht – aber er schlief auch nicht. Er sah Wolken und feine, feine, wie schleierhafte Gestalten um sich.

Er sah auch den Oberpriester und neben ihm ruhig, würdevoll und strahlend seinen Führer. Das Gefühl des Schwindels wurde stärker. Er sah die Worte des Führers. »Das Rad des Lebens dreht sich.« Er sah diese Worte mehr als er sie hörte.

Die Drehungen wurden immer rascher. Und plötzlich hatte er das Gefühl, als spalte sich etwas in ihm. Ein Teil blieb auf dem Lagerbette liegen, das was atmete, und ein Teil schwebte über dem Körper, der auf dem Lager ruhte, es war das, was dachte, aber es sah, hörte und fühlte – überall – es war sehr eigentümlich, es war, als wäre er ganz Gesicht, Gehör, Gefühl. Er war auch erstaunt, feststellen zu müssen, daß er das, was auf dem Lager war, nicht war, sondern nur etwas, das drin gesteckt hatte. Auch wunderte er sich, nun das Innere des anderen zu sehen, es schien ihm, als sähe er hindurch, durch den Oberpriester und seinen Führer.

Dieser nahte sich ihm, schwebte zu ihm empor. Der Oberpriester legte seinen Mantel über den leblos daliegenden Körper des jungen Priesters; darauf schien es diesem, als fasse ihn sein Führer und als schwebe er mit ihm empor. Zu seinem Erstaunen bildete das Gewölbe des Heiligtums kein Hindernis. Er drang durch die Steine, wie ein Vogel durch die Wolken. Es war ihm neu. Da sah er seinen Führer reden: »Dein Leib bleibt im Heiligtum unter dem Mantel des Oberpriesters, damit kein unsauberer Geist von ihm Besitz nehmen kann; denn viele sind der Geister, die umherirren und einen Körper suchen. Sie hängen am Leben und streben nicht hinauf in die Gefilde des Friedens und Lichtes. Oft fahren die Gequälten auch in die Leiber der Tiere oder in die von Menschen, die Festungen mit zertrümmerten Mauern sind, die durch Ausschweifungen oder Krankheit ihre Widerstandskraft und Selbstbeherrschung verloren haben.«

Sie schwebten höher. Die Stadt lag tief unter ihnen. Der heilige Strom glänzte wie ein breites silbernes Band. Der junge Priester dachte an sein stilles Zimmer im Garten des Tempels und wollte es sehen, da zog es ihn stark nach unten, und er wäre in der Richtung seines Hauses fortgeeilt, wenn sein Führer ihn nicht zurückgehalten hätte. »Du musst hier noch mehr als in der sichtbaren Welt Deine Gedanken und Deinen Willen beherrschen. Denn Gedanken sind Gebilde, die wir gebären, und unser Wille ist die Triebkraft, die uns vorwärtsbewegt. Sieh’ Dich um.« Der junge Priester tat es und gewahrte ein endloses Heer nebelhafter Gebilde, verschieden in Form und Farbe, das ihm folgte, und er kam sich vor wie ein Komet, der einen Schweif mit sich schleift.

»Du siehst, wie weise Deine Lehrer waren, als sie Dich unterwiesen, auf Deine Gedanken und Gefühle acht zu haben. Du siehst, wie Deine Gedanken, Deinem Hirn entsprossen, ihrem Urheber und Vater folgen.« »Wer aber sind jene Einzelnen, die über und neben uns in der Ferne schweben?« »Das sind Geister«, – sagte der Führer. »Wie kann ich hier wissen, ob ich einen Geist oder einen Gedanken vor mir habe?« »Rede die Erscheinung an. Ist sie ein Geist, so wird sie Dir antworten, denn es ist eine Persönlichkeit. Ist es aber eine Gedankenform, so wirst Du keine Antwort erhalten, denn sie hat keinen Geist, sondern nur eine Art Pflanzenleben und den Drang ihrem Erzeuger zu folgen.

Und nun, möchtest Du nicht das Haus Deiner Eltern sehen?« »Ja – –« »So wolle es.« Der junge Priester richtete seinen Willen auf das Haus seiner Eltern und mit der Geschwindigkeit des Blitzes war er davor. Er wollte hinein und drang ohne irgendwelche Schwierigkeit durch das Gemäuer in das Schlafgemach. Er sah seine Eltern schlafen, aber ihre Körper schienen ihm leer. »Sie sind nicht hier,« belehrte ihn der Führer, »sie sind anderswo, im Reiche der Träume. Nur die Hülle ruht und lebt auf dem Lager.

Komm, wollen wir höher hinauf!« Von ihrem Willen getragen, schwebten der junge Priester und sein Führer wieder empor. »Du siehst, der Wille ist es, der uns hier bewegt und trägt. Deine Lehrer taten wohl, Dir Übungen aufzugeben, die Deinen Willen stärkten, denn willenlose Geister irren im Dunstkreis der Erde umher, ohne die Kraft zu haben, sich in höhere Schichten zu erheben. Wir aber können hinauf. Komm!«

Sie flogen. Zu ihrer Rechten wuchs der Mond mit rasender Schnelligkeit. Der junge Priester unterschied mit Interesse die eigenartigen, riesigen Gebirgskrater auf der großen, von der Sonne hell beschienenen Scheibe. »Ein toter Körper«, sagte der Führer, »er ward ausgestoßen aus der Erde, dort, wo jetzt das Mittelländische Meer glänzt und rauscht. Halte Dich nicht auf, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Ein Stern, der wie ein riesiger Smaragd leuchtete, wuchs rasch vor ihnen, mattdurchleuchtete Dünste umhüllten, grünliche Nebelstreifen umgaben ihn. Sie flogen so nah an ihm vorbei, daß der junge Priester Meere und Kontinente, Seen und Berge auf ihm unterscheiden konnte. »Wie kommt es, daß ich nur die Sterne sehe, aber nicht deren Bewohner?«, fragte der junge Priester. »Du kannst noch nicht den Dunstkreis eines anderen Planeten betreten, das wird später einmal sein. Auch ist eine gewisse Binde noch nicht von Deinen Augen genommen. Sie wird aber bald fallen.«

Sie flogen weiter. Sie ließen den wie einen Smaragd leuchtenden Stern bald hinter sich. Eine riesige blauglühende Kugel lag nun auf ihrem Wege, die vier kleinere, rosa, gelb, grün und rot leuchtende Monde umkreisten. Die Farbenschönheit war überwältigend, und der junge Priester wollte sich dieser herrlichen Welt nähern, aber sein Führer ließ es nicht zu.

»Höher hinauf«, sagte er ihm, »schau!« Da schien es dem jungen Priester, als fiele eine Binde von seinen Augen und er sah unzählige Geister, die über, neben und hinter ihnen ebenfalls emporschwebten. Sie leuchteten und schillerten in den verschiedensten Farben, die meisten aber strahlten in weißem Lichte, das zuweilen opalisierte. Sie flogen alle zusammen der Sonne zu, die rasch größer und immer gewaltiger wurde. Ein Meer von Licht schien sie zu umgeben und Freude und Jubel zitterte rings um sie her. »Was ist das für eine Versammlung, wohin eilen diese herrlichen Geister?«, fragte der junge Priester. »Es sind gereinigte, geläuterte, gereifte Geister, die sich hier versammeln zu seliger Freude und heiligem Lobe.«

In der Mitte einer endlosen Fläche strahlte ein für den jungen Priester schier unerträgliches Licht. Ihm schien es, als strebten alle Geister dorthin zusammen. »Wer ist es, um den sich die Herrlichen alle versammeln?« fragte er. »Es ist ein Hoher, der die Geschicke der Sonne und ihrer Planeten lenkt und deren Entwicklung überwacht.« »Es wäre also nicht der Thron des Höchsten, Unaussprechlichen?« »Nein, von dem sind wir weit entfernt.« »Werden wir...« »Frage nicht – schau – hör.«

In endlosen Zügen strebten die leuchtenden seligen Geister dem Lichte zu; der Glanz, den sie ausstrahlten, vereinigte sich mit den rhythmisch bewegten Harmonien ihres Lobgesanges zu unsagbarer Herrlichkeit. Auch der junge Priester konnte nicht stille bleiben; die selige Freude aller riss auch ihn hin und auch er lobte den höchsten Gott, dessen Diener so herrlich sind.

Da sprach sein Führer: »Hier lobt der Neophyte Gott, hier spricht niemand Beleidigungen aus, hier bereitet niemand Leiden.« Der junge Priester wollte näher zum Lichte heran, aber sein Führer ließ es nicht zu. »Du könntest es nicht ertragen«, sagte er und fasste ihn.

Sie fuhren mit der Schnelligkeit eines Blitzes durch endlose Räume der Erde wieder zu. Der junge Priester fühlte, daß es sich wie eine Binde um seine Augen legte. »Warum?« fragte er. »Du sollst heute vieles Schreckliche und Traurige nicht sehen. Du wirst es früh genug kennen lernen.« Der junge Priester kam zu sich, ihm war, als sei er mit einem Ruck in seinen Körper gefahren, der ruhig unter dem Mantel des Oberpriesters liegen geblieben war.

* * *

Er erwachte. Er hatte nicht geträumt. Er hatte etwas Großes, Wunderbares erlebt, das nie aus seinem Gedächtnis schwinden sollte.

* * *